MOSKAU, 05. November 2008 - Offenbar wird dieses Jahr nicht nur wegen des Kriegs im Kaukasus und der Finanzkrise in Erinnerung bleiben. In diesem Jahr ist zudem klar geworden, dass die Menschheit bald einen anderen Planeten benötigen wird.
Ende Oktober erschien der Bericht "Living Planet Report 2008", an dem die internationale Wissenschaftlergemeinschaft zwei Jahre lang gearbeitet hat. Ihre Schlüsse stimmen nicht gerade optimistisch. Dank der Entwicklung von Technologien verbraucht der Mensch bereits mehr Ressourcen der Erde, als sie bereit stellen kann.
Schon in 30 Jahren wird es einen umfassenden Mangel am Notwendigsten geben, was eine globale politische und ökonomische Katastrophe nach sich ziehen wird. In dieser Situation bleiben uns zwei Wege: entweder den Lebensstil zu verändern oder in den Tiefen des Alls nach einer neuen Zuflucht zu suchen.
Die zweite Wahl ist nicht etwa ein Märchen oder reine Fantasie. Fragen danach, was aus unserem Planeten schon in einigen Jahrzehnten werde, ob es uns an Kohle, Erdöl und Naturgas reichen wird und ob wir überhaupt uns werden ernähren können, sind in Hunderttausenden Briefen enthalten, die alljährlich bei entsprechenden Kommissionen und Komitees der UNO eingehen.
Die Erdbewohner sind heutzutage ernsthaft und gar nicht unbegründet der Meinung, dass das Leben auf unserem Planeten immer komplizierter werde und es gelte, nach einem "neuen Heim" außerhalb der Erde zu suchen.
Wird die Menschheit auf ihrem Streben beharren, auf unserem Planeten zu bleiben und dabei nicht auf Sparflamme zu kochen, so wird die einzige Lösung der Probleme offenbar darin bestehen, politische Zwangsmaßnahmen zur Verteilung der Ressourcen zu treffen, die schon jetzt zur Deckung des weltweiten Bedarfs nicht ausreichen. Das wird unvermeidlich zu Streitigkeiten unter den Völkern führen.
Die Wissenschaftler sehen eine Alternative zum Aufenthalt des Menschen auf der Erde in der Schaffung von Weltraumsiedlungen. Wissenschaftler, Ingenieure, Soziologen und Wirtschaftsexperten von 29 Ländern arbeiten seit 1975 die Idee solcher Siedlungen detailliert durch. In der UdSSR hatte Valentin Gluschko als Treibkraft der sowjetischen Weltraumforschung eine Orbitalsiedlung entworfen.
Nach Ansicht von Fachleuten könnte aufgrund der zahlreichen Erfahrungen der Weltraumflüge, besonders der sowjetischen Saljut-Stationen und der russischen Raumstation "Mir", die Schaffung einer radähnlichen Siedlung mit einem Durchmesser von ca. 1,6 Kilometer in Betracht kommen. Die gesamte Konstruktion dreht sich um ihre zentrale Achse zwecks Entwicklung der künstlichen Schwerkraft.
Vermutlich könnten innerhalb eines solchen Rads oder Torus 10 000 Menschen Platz finden, mit allem, was zum Leben gehört: Geschäften, Schulen, der Industrie- und Landwirtschaft mit einem geschlossenen Zyklus.
Ein riesiger ringförmiger Spiegel, der über der Siedlung schwebt, fokussiert das Sonnenlicht auf einem anderen ringförmigen Spiegel. Dieser seinerseits reflektiert das Licht auf die ringförmigen Spalte in speziellen Fenstern zur Beleuchtung der landwirtschaftlichen "Plantagen". Längs der Achse des "Rads" ist auf einem Stab ein hochautomatisierter Industriebetrieb in den Raum hinausgeschoben, der in der Schwerelosigkeit unter Nutzung der Sonnenenergie Rohstoffe (zum Beispiel Mondgestein) verarbeitet.
Die Wissenschaftler vermuten, dass sich in den Siedlungen ähnliche Lebensbedingungen wie auf der Erde schaffen lassen. Doch nach dem Plan des Vorhabens wird die Atmosphäre zwar einen Sauerstoffgehalt wie auf der Erde, dafür aber etwas weniger als die Hälfte des normalen Stickstoffgehalts haben. Dadurch wird der atmosphärische Druck etwa die Hälfte jenes auf der Erde auf der Höhe des Meeresspiegels ausmachen. Das ermöglicht es, das Gewicht der Konstruktion auf ein Minimum zu reduzieren und die Montagearbeiten vielfach vereinfachen.
Dafür könnten spezielle "kluge" Manipulationsroboter eingesetzt werden, ähnlich dem von den Petersburger Kybernetikern bereits 2001 entwickelten mechanischen Arm zur Bedienung der Internationalen Raumstation. Ein mit einem speziellen Computerprogramm ausgestatteter Roboter braucht keinen Operator, kann "sehen und fühlen", hat ein System des technischen Sehens sowie einen Ultraschall- und einen Gamma-Locator.
Da die Lebensmittelproduktion eine äußerst wichtige Besonderheit jeder Selbstversorgungsgesellschaft ist, werden in der Siedlung intensive Methoden der Landwirtschaft zur Anwendung kommen. Ihre Grundlage werden Getreide und andere Nutzpflanzen sein, die um so schneller wachsen, je mehr Licht sie bekommen. In den Wohnraumsiedlungen können die Saatflächen rund um die Uhr im Sonnenlicht liegen.
Wann werden die Menschen in ihrem Weltraumheim den ersten Einzug feiern können? Die optimistische Prognose stammt vom amerikanischen Physiker Gerard K. O`Neill (1927-1992), Professor an der Universität Princeton. Ihm zufolge werde die erste Weltraumsiedlung im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts nach dem Aufbau einer Erz gewinnenden Mondbasis entstehen. Ungefähr 2100 könne es im Weltraum bereits ein Gestirn von ringförmigen Siedlungen mit einer sich schnell entwickelnden Technologie geben, die das Leben von Hunderttausenden Erdbewohnern werde sichern können.
Die innovative Idee der Weltraumbesiedlung besteht nicht nur in der Meisterung der erforderlichen Technik. Vor allem ist das eine reale Möglichkeit für die Menschheit, einen weiteren Schritt bei ihrer Vorwärtsbewegung zu tun, ohne das feine ökologische Gleichgewicht auf der Erde zu stören - zum Unterschied von der vorherigen Industrierevolution.
Was wirklich fantastisch anmutet, ist der Gedanke, dass Wohnraumsiedlungen eine Chance geben könnten, neue gesellschaftliche Strukturen auszuarbeiten, die auf einer wahren Wechselabhängigkeit und der Sorge für die Erhaltung der Ressourcen und der Umwelt beruhen.
Es könnte ferner angenommen werden, dass Menschen verschiedener Kulturtraditionen und selbst religiöser Überzeugungen in Weltraumsiedlungen leben und ihr Schicksal nach eigenem Ermessen gestalten werden können. Die einen werden sich etwas wie eine britische ländliche Provinz einrichten, andere die Landschaft und die Gebräuche des österreichischen Tirol reproduzieren, wieder andere ein tropisches "Paradies" schaffen.
Der Optimismus von Professor O`Neill wie auch das gesamte Projekt scheinen heute fantastisch. Doch bevor wir ironisch werden: Man stelle sich in Gedanken vor, welchen Eindruck die modernen gigantischen Flugzeuge, etwa die Ruslan oder die Boeing mit ihrer interkontinentalen Flugreichweite, auf die Gebrüder Wright mit ihrem winzigen Doppeldecker machen könnten.
(Andrej Kisljakow für RIA Novosti)
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