Mithilfe von Satellitendaten aus 19 Jahren und Auswertung auf Basis Neuronaler Netze kann die Schicht um die Erde in ihrer Komplexität sehr viel besser als bisher rekonstruiert werden. Das ist u.a. wichtig für die Satellitennavigation.
Die Ionosphäre, der Bereich 60 bis 1000 Kilometer über der Erde, beeinträchtigt mit ihren elektrisch geladenen Teilchen die Ausbreitung von Funksignalen der globalen Satellitennavigationssysteme (GNSS).
Modell der Ionosphäre Elektronendichte der oberen Ionosphäre rund um die Erde zu einem Zeitpunkt des Tages (0:00 Uhr Universalzeit): hohe Dichten in Rot, geringe in Blau. Die weiße Linie markiert den geomagnetischen Äquator. CCBY 4.0 Smirnov et al. (2023) - Scientific Reports (https://doi.org/10.1038/s41598-023-28034-z) |
Für deren geforderte immer höhere Präzision ist das ein Problem – in Forschung wie in Anwendung, etwa im Bereich autonomes Fahren oder für die genaue Bestimmung der Umlaufbahn von Satelliten. Modelle der Ionosphäre und ihrer ungleichmäßigen, dynamischen Ladungsverteilung können helfen, die Signale zu korrigieren. Forschende um Artem Smirnov und Yuri Shprits vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ haben im Fachmagazin Nature Scientific Reports ein neues Modell der Ionosphäre vorgestellt, entwickelt auf Basis Neuronaler Netze und Satellitenmessdaten aus 19 Jahren. Es kann insbesondere den oberen, elektronenreichen Teil der Ionosphäre deutlich präziser als bisher rekonstruieren. Damit ist es auch eine wichtige Basis für Fortschritte in der Ionosphärenforschung, mit Anwendungen etwa bei Studien zur Ausbreitung elektromagnetischer Wellen oder für die Analyse bestimmter Weltraumwetter-Ereignisse.
Hintergrund: Bedeutung und Komplexität der Ionosphäre
Die Ionosphäre der Erde ist der Bereich der oberen Atmosphäre, der sich von etwa 60 bis 1000 Kilometer Höhe erstreckt. Hier dominieren, hervorgerufen durch die Strahlungsaktivität der Sonne, geladene Teilchen wie Elektronen und positive Ionen – daher auch der Name. Die Ionosphäre ist für etliche wissenschaftliche aber auch industrielle Anwendungen wichtig, weil die geladenen Teilchen die Ausbreitung von elektromagnetischen Wellen wie Funksignalen beeinflussen. So ist die sogenannte ionosphärische Laufzeitverzögerung von Funksignalen eine der wichtigsten Störquellen für die Satellitennavigation. Diese ist proportional zur Elektronendichte im durchlaufenen Raum. Daher kann eine gute Kenntnis der Elektronendichte bei der Korrektur der Signale helfen. Insbesondere ist der obere Bereich der Ionospähre, oberhalb von 600 Kilometern, von Interesse, da in dieser sogenannten Topside-Ionosphäre 80 Prozent der Elektronen versammelt sind.
Das Problem: Die Elektronendichte variiert stark – abhängig von der Länge und Breite über der Erde, der Tages- und Jahreszeit und der Sonnenaktivität. Das erschwert ihre Rekonstruktion und Vorhersage, die Basis zum Beispiel für die Korrektur von Funksignalen.
Bisherige Modelle
Zur Modellierung der Elektronendichte in der Ionosphäre gibt es verschiedene Ansätze, unter anderem das Internationale Referenz-Ionosphärenmodell IRI, das seit 2014 anerkannt ist. Es ist ein empirisches Modell, bei dem auf Grundlage der statistischen Analyse von Beobachtungen eine Beziehung zwischen Eingangs- und Ausgangsvariablen hergestellt wird. Allerdings hat es im wichtigen Bereich der Topside-Ionosphäre noch Schwächen, weil die Datenabdeckung für diese Region limitiert war.
Seit kurzem stehen jedoch auch für diesen Bereich große Datenmengen zur Verfügung. Daher bieten sich Ansätze des Maschinellen Lernens (ML) an, um hieraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, insbesondere für komplexe nicht-lineare Zusammenhänge.
Neuer Ansatz mittels Maschinellem Lernen und Neuronalen Netzen
Ein Team des Deutschen GeoForschungsZentrums GFZ um Artem Smirnov, Doktorand und Erstautor der Studie, und Yuri Shprits, Leiter der Sektion „Weltraumphysik und Weltraumwetter“, hat einen neuen ML-basierten empirischen Ansatz verfolgt. Hierfür nutzten sie Daten von Satellitenmissionen aus 19 Jahren, insbesondere CHAMP, GRACE und GRACE-FO, die maßgeblich vom GFZ mitbetrieben wurden und werden, und COSMIC. Die Satelliten haben – unter anderem – die Elektronendichte in verschiedenen Höhenbereichen der Ionosphäre vermessen und decken verschiedene Jahres- und Ortszeiten sowie Sonnenzyklen ab.
Mithilfe von Neuronalen Netzen haben die Forschenden hieraus dann ein Modell für die Elektronendichte der Topside-Ionosphäre entwickelt, das sie NET-Modell nennen. Dabei wandten sie die sogenannte MLP-Methode (Multi-Layer Perceptrons) an, bei der die Eingangsdaten in verschiedenen Schritten optimiert gewichtet werden.
Anschließend haben die Forschenden das Modell dann mit unabhängigen Messungen von drei anderen Satellitenmissionen getestet.
Bewertung des neuen Modells
„Unser Model stimmt in bemerkenswerter Weise mit den Messungen überein: Es kann die Elektronendichte in allen Höhenbereichen der Topside-Ionosphäre, in allen Bereichen um die Erde, zu allen Jahres- und Tageszeiten und verschiedenen Leveln der Sonnenaktivität sehr gut rekonstruieren und es übertrifft das Internationale Referenz-Ionosphärenmodell IRI signifikant an Genauigkeit. Darüber hinaus deckt es den Raum kontinuierlich ab“, resümiert Artem Smirnov.
Yuri Shprits ergänzt: „Diese Studie stellt einen Paradigmenwechsel in der Ionosphärenforschung dar, denn sie zeigt, dass ionosphärische Dichten mit sehr hoher Genauigkeit rekonstruiert werden können. Das NET-Modell bildet die Auswirkungen zahlreicher physikalischer Prozesse ab, die die Dynamik der Topside-Ionosphäre bestimmen, und kann in der Ionosphärenforschung breite Anwendung finden.“
Mögliche Anwendungen in der Ionosphärenforschung
Mögliche Anwendungen dort sehen die Forschenden zum Beispiel in Studien zur Wellenausbreitung, zur Kalibrierung neuer Elektronendichte-Datensätze mit oft unbekannten Baseline-Offsets, für tomographische Rekonstruktionen in Form eines Hintergrundmodells sowie zur Analyse spezifischer Weltraumwetterereignisse und zur Durchführung langfristiger Ionosphären-Rekonstruktionen. Darüber hinaus kann das entwickelte Modell mit plasmasphärischen Höhen verbunden werden und somit eine neue Topside-Option für das IRI darstellen.
Der entwickelte Rahmen ermöglicht die nahtlose Einbindung neuer Daten und neuer Datenquellen. Das Umlernen des Modells, also das Trainieren an den neuen Daten, kann auf einem Standard-PC erfolgen und regelmäßig durchgeführt werden. Insgesamt stellt das NET-Modell eine erhebliche Verbesserung gegenüber herkömmlichen Methoden dar und verdeutlicht das Potenzial von Modellen auf Basis Neuronaler Netze für eine genauere Darstellung der Ionosphäre für Kommunikations- und Navigationssysteme, die auf GNSS angewiesen sind.
(Josef Zens / Presse- und Öffentlichkeitsarbeit / Helmholtz-Zentrum Potsdam - Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ)