logo

frauenhofer
Wissenschaft, Forschung und Technologie werden offenbar in der nächsten Legislaturperiode keine große Rolle spielen. Deshalb ist eine Wissenschaftsdebatte nötig.
Während des Kanzlerduells am vergangenen Sonntagabend erwähnte Angela Merkel die Begriffe "Forschung" und "Bildung" erstmals 60 Minuten nach Beginn des Duells. Als Argument für die Zukunft Deutschlands sprach sie die beiden Begriffe noch einmal in ihrem Schlusswort gegen 22:00 Uhr aus. Ihr Kontrahent Frank-Walter Steinmeier erwähnte die Wörter "Forschung" und "Bildung" überhaupt nicht. Dabei ist Forschung seit 150 Jahren der wichtigste Innovationstreiber Deutschlands. Dass Wissenschaft so wenig Beachtung im Bundestagswahlkampf 2009, in den Wahl- und Parteiprogrammen und den großen Bundestagsdebatten findet, ist alarmierend. Die Journalistenvereinigung für wissenschaftlich-technische Publizistik TELI e.V. will deshalb zwischen Forschern, Politikern und Bürgern Brücken schlagen.

Aus diesem Grund hat sie die Wissenschaftsdebatte 2009 (http://www.wissenschaftsdebatte2009.de) ins Leben gerufen, die die großen Fragen der Forschung diskutiert. Dazu formulierten Wissenschaftler der großen Forschungseinrichtungen Deutschlands in einem Fragebogen http://spreadsheets.google.com/viewform?hl=en&formkey=cnZGaDhxM2M5MWh1Uk9ISE... ihre Wünsche an die Politik. In einer zweiten und dritten Runde nehmen jetzt auch Politiker und Bürger sowie deren zivilgesellschaftliche Verbände zu dem Thema Stellung und runden es ab.

Bullinger: Die Menschen brauchen Antworten und müssen mitgehen

Im Portal der Wissenschaftsdebatte auf der TELI-Homepage unterstützen führende deutsche Forschungseinrichtungen und Wissenschaftler den Diskurs, darunter auch der Präsident der Fraunhofer Gesellschaft, Prof. Dr. Hans-Jörg Bullinger, mit den Worten:

"Wir benötigen eine breite gesellschaftliche Debatte, wie wir die Zukunft gestalten wollen. Die Menschen brauchen Antworten auf die Fragen unserer Zeit. Wir können die Chancen, die uns Forschung und Technik eröffnen, nur nutzen, wenn die Menschen mitgehen."

Mlynek: Die Gesellschaft darf einen Gegenwert erwarten

Das ergänzt Prof. Dr. Mlynek, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft: "Die Gesellschaft finanziert einen großen Teil der Forschung und darf daher auch einen Gegenwert erwarten." Dr. Arndt Oetker, Chef des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft, sieht die Gefahr, dass Politiker nur in Sonntagsreden die hohe Bedeutung der Wissenschaft beschwören, im politischen Alltag die Hochschulen aber allzu leicht "hinten runter fallen". Deshalb verlangt Oetker von seinen Forscherkollegen einen viel größeren Einsatz: "Wir müssen zu leidenschaftlichen Interessensvertretern in eigener Sache werden!"

Forscher stellen Anträge und haben keine Zeit mehr zum Forschen

Forscher aus dem akademischen Mittelbau beklagen auf dem TELI-Fragebogen die immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen der deutschen Forschung: Zu viele Vorlesungen und zu wenig Zeit für die eigene Forschungsarbeit. Insgesamt vermitteln die Fragebogenrückläufe den Eindruck, dass deutsche Forscher immer mehr Zeit für das Beantragen von Geldern verwenden. Wissenschaftler "seien scheinselbständig, müssten sich ständig selber finanzieren, und von den Geldern müsste auch noch die universitäre Verwaltung quersubventioniert werden", so der Physiker Prof. Dr. Klaus Buchner, TU München. Ein Theologe aus Rostock beklagt, das ein Drittel der Arbeitszeit mittlerweile für die Antragsstellung aufgebracht werden müsse.

"Wir versprechen, Probleme zu lösen, und erzeugen oft nur heiße Luft"

Sehr deutlich in seiner Kritik wird ein in die USA übergesiedelter Forscher. Er bedauert die völlig unsicheren Zukunftsaussichten für Nachwuchsforscher in Deutschland, die sich von Dreijahresvertrag zu Dreijahresvertrag hangelten, Gehälter zwischen denen einer Friseurin und einer Sekretärin verdienten und am Ende ihrer universitären Karriere mit 45 nicht mehr an die Industrie zu vermitteln seien. Die Ergebnisse der deutschen Forschung, insbesondere unter solchen Bedingungen, seien bescheiden: "Wir versprechen den Bürgern, dass wir ihre Probleme lösen und die Welt besser machen, damit unsere Anträge bewilligt werden, aber am Ende bleiben uns nur ein paar Forschungsergebnisse und heiße Luft", befindet der Migrant.

Statt Fachchinesisch: Allgemeinverständlichkeit und dialogisch-partizipative Formate!

Vielleicht gehen so dürftige Ergebnisse auch darauf zurück, dass viele Forscher nicht die Sprache des Volkes sprechen und ihr Fachchinesisch vielen einfach zu rätselhaft bleibt. So fordert der Mitarbeiter einer großen deutschen Forschungseinrichtung eine radikale Verbesserung der Vermittlungskompetenz von Forschern, die bei der "Bewilligung von Anträgen auch vor Laien Rede und Antwort stehen" müssten. Dieses "dialogisch-partizipative Format" müsse Bürger und gleichwohl Nichtsregierungsorganisationen (NGOs) einbeziehen.

Warum lässt sich der deutsche Forschungsetat nicht verdoppeln?

Es besteht große Einigkeit darüber, dass die deutsche Forschung international nur dann wettbewerbsfähig bleiben kann, wenn sie mehr Gelder erhält. Ihr Anteil beträgt derzeit 2,5 Prozent des Bruttinlandsprodukts, während die EU seit langem drei Prozent empfiehlt und technologisch sehr ehrgeizige Länder wie Finnland bereits vier Prozent überschreiten. Deshalb halten es einige Forscher im TELI-Fragebogen für gerechtfertigt, wenn die Forschungsetat sich auf fünf Prozent verdoppelte.

Urania-Direktor: In der Wissensgesellschaft sind die Bürger Mitgestalter der Forschung

Der Geldfluss sollte auch eine effektivere Popularisierung der Wissenschaft ermöglichen. Das wünscht sich Dr. Ulrich Bleyer, Direktor der Urania Berlin e.V, einer traditionsreichen Einrichtung, die bereits zu Kaisers Zeiten die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse unter das Volk brachte und als erstes Science Center der Welt gilt. Zu einer Wissensgesellschaft gehöre, dass der Bürger "den wissenschaftlichen Fortschritt aktiv mitgestalten kann", sagt Bleyer, und: Ethischer Konsens über die strittigen Fragen lasse sich nur durch einen gesellschaftlich breiten Diskurs erreichen.

Max-Planck-Chef: Freiheit der Forschung verteidigen

Eine großzügige Ausstattung mit Steuergeldern legitimiert aber noch lange nicht eine Bevormundung der Forschung durch den Staat. Diese Ansicht vertritt der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Professor Dr. Peter Gruss, der vehement für die Freiheit der Forschung eintritt:

"Forschungsinhalte nicht vom Staat anweisen lassen!"

Gruss zitiert den ersten Direktor des Teilchenbeschleunigers Fermilab, Bob Wilson, der auf die Frage, was sein Labor zur Verteidigung des Landes beitragen wird, geantwortet hat: ,,Nichts, aber es wird dafür sorgen, dass es verteidigungswert ist.'' Dies sei auch das Ziel der MPG-Institute in Deutschland. Aber wir wollen uns von der Politik nicht zusammen mit dem Geld die Forschungsinhalte ,,anweisen" lassen: ,,Das entspräche wohl dem Fisch, der meint, aufwärts geht's, wenn er an der Angel hängt."

Trotz Ignoranz in Wahlkampf und Parteiprogrammen: Es gibt auch engagierte Politiker

Einer der Politiker, der sich trotz der Missachtung von Forschung und Innovation des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier beim TV-Duell an der Wissenschaftsdebatte bisher sehr engagiert beteiligt hat, ist der Bundestagsabgeordnete Dr. Axel Berg aus dem Wahlkreis München-Nord. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie. "Forschung und Bildung sind überlebensnotwendig für unsere Zukunft", sagt Berg. Er will die Forscher bei der Beantragung von Geldern entlasten. Dazu will er eine "übergreifend koordinierende Forschungsstelle" schaffen mit einem einzigen Ansprechpartner für alle Forschungsvorhaben, bei dem alle Informationen über Finanzierung und Wissensmanagement zusammenlaufen.

Probestudium testen: "Die Neugier der Kinder macht sie zu natürlichen Forschern"

"Die Neugier der Kinder in Kindergärten und Schulen macht sie zu natürlichen Forschern" - das will der SPD-Mann fördern, etwa durch ein Probestudium bereits in der Schule, Ausweitung der Junior- und Gastprofessur, stärkere Öffnung der Unis für Quereinsteiger und erfahrene Praktiker. Gute Forschungsansätze kämen von überall her, deshalb "muss die staatlich geförderte Forschung ein demokratischer Bottom-up-Ansatz" leiten. Dafür sei ein öffentlicher und kostenfreier Zugang zur Forschungsliteratur nötig; Open Access, Open Source und eScience müssten weiter ausgebaut , "Bürger in den Wissenschaftsbetrieb durch Teilnahme an Seminaren und Studien integriert" werden. Gleichzeitig muss die Selbstorganisation der Forschungsinstitute gestärkt werden, Forscher sollten zu mehr "Transparenz und allgemeinverständlichen Erklärung" angehalten werden.

"Zur globalen Klugheit durch eine zweite post-moderne Aufklärung"

Das alles gehört zur Wissenschaftsstrategie des Technologie-Experten im Bundestag. Sein Reformpaket läuft auf eine "zweite post-moderne Aufklärung" hinaus. Jeder Einzelne müsse den Wandel mit herbeiführen, der sich nicht allein durch Gesetze von oben erzwingen lasse. Nur so könne der Mensch den Weg zu einer "globalen Klugheit" beschreiten, kraft derer er überleben werde.

Deutschland wird Leitmarkt der E-Mobilität

Die Menschheit steht an einer historischen Weggabelung, glaubt Berg, mit einer einmaligen historischen Chance. Atomenergie sei von gestern, den Erneuerbaren gehöre die Zukunft. "Sie sind das derzeit zukunftsträchtigste Feld im gesamten Wirtschaftsspektrum." Die Abwrackprämie war weder ökologisch noch ökonomisch sinnvoll, statt dessen muss "Deutschland der Leitmarkt der Elektromobilität werden", wenn es seine Führungsrolle im Automobilbau behaupten wolle. Neben Null-Emissions-Autos müssten auch verstärkt Null-Emissions-Häuser gebaut werden.

Durch Gen-Technik schlechte Karten im Kampf gegen den Klimawandel

Berg nimmt auch Stellung zu den aktuellen forschungspolitischen Kontroversen, darunter Gentechnik, Stammzellenforschung, Nanotechnologie. "Die Büchse der Pandora darf nicht geöffnet werden!", fordert Berg. Sämtliche Abstriche beim Schutz des gentechnikfreien Anbaus lehnt er entschieden ab, um den Verbraucher vor gentechnisch veränderten Lebensmitteln zu schützen. Gentechnik könne den Hunger auf der Welt nicht bekämpfen, sondern führe zu verheerenden Monokulturen.

Zur Nanotechnologie schreibt Berg im Fragebogen: "Sie hält nicht, was sie verspricht, und kann nicht als ungefährlich eingestuft werden."

Singhammer: Neue Erkenntnisse in die Öffentlichkeit tragen und um Akzeptanz bemühen

Auch Johannes Singhammer, der Bundestagsabgeordnete der CSU in dem selben Wahlkreis wie Berg äußerte sich dezidiert zu Fragen der Forschung und Technologie auf einer Wahlverstaltung im Olympiadorf München. Als Kuratoriumsmitglied der Max-Planck-Stiftung trete auch er für den Abbau bürokratischer Hindernisse bei der Mittelvergabe ein.

Bei der Energiefrage setzt sich Singhammer für einen Energiemix ein: Kernenergie sei eine Übergangsenergie, und vielerorts, wie in München, sei die Nutzung von Erdwärme günstiger.

Gerade in der momentanen Krise sei es wichtig, so Singhammer ergänzend im Fragebogen, verstärkt in Ausbildung und Forschung zu investieren, um Deutschland wettbewerbsfähig zu halten.

Er tritt ein für eine klare Kennzeichnung von Lebensmitteln mit genveränderten Bestandteilen.

Nicht zuletzt dürfe Forschung nicht nur im Labor neue Erkenntnisse sammeln, sondern müsse diese in die Öffentlichkeit tragen und sich um angemessene Aufklärung und Akzeptanz bemühen.

Dritter Partner in der W-Debatte: BürgerInnen und Zivilgesellschaft

Das alles kann als Grundlage für eine parteienübergreifende Diskussion gelten. Aber als dritter Partner sind neben Forschern und Politikern auch die Bürger und deren Verbände zur Teilnahme an diesem Diskurs aufgerufen. Den Auftakt dazu macht Gunda Krauss, die in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Funktionen auf sich aufmerksam gemacht hat. Sie war aktiv im Seniorenbeirat der Landeshauptstadt München, hat mit Staatsministerin a.D. Dr. Hildegard Hamm-Brücher das Bündnis zur Erneuerung der Demokratie (BED) ins Leben gerufen und führt derzeit eine von Presse und Politik viel beachtete Aktion und Mission aus:

"Wissenschaft muss dem älter werdenden Menschen das Leben erleichtern"

Die 70-Jährige radelt auf einem Hybrid-Dreirad mit ihrem Rauhaardackel Sauser von München nach Rügen. Mit "Gunda unterwegs" www.gunda-unterwegs.de will die agile Frau eine Bresche schlagen für "CO2-freie, seniorenfreundliche und barrierefreie Mobilität". Die TELI-Wissenschaftsdebatte begleitet sie mit dem Zitat: "Wissenschaft existiert nicht um ihrer selbst willen, sondern muss dem Menschen dienen und ihm das Leben erleichtern. In diesem Sinne benötigen wir in einer immer älter werdenden Gesellschaft viel mehr Forschung, die sich dem älter werdenden Menschen und dessen Bedürfnissen widmet sowie Lösungen für seine Probleme findet."

Neubert: Gesellschaftlichen Vertrag für Wissenschaft erneuern!

In diesem Zusammenhang weist der TELI-Vorsitzende Hanns-J. Neubert darauf hin, dass die Bürger wichtige Partner der Wissenschaft sind und die W-Debatte des Verbandes sie in dieser Funktion unterstützen möchte. Er war im Juni 2009 in Paris zu einem Arbeitstreffen der European Science Foundation ESF eingeladen, um über das TELI-Projekt zu berichten. Neuberts Ausführungen unterstützten die ESF in ihren Bemühungen, die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu erneuern. "Denn es gibt immer mehr beunruhigende Zeichen, dass nicht nur die Gesellschaft das Interesse an der Wissenschaft verliert, sondern dass auch die Wissenschaft nicht genug Inspirationen aus der Gesellschaft bekommt", schreibt Neubert im TELI-Blog teli.de/blog/, der die Ergebnisse der W-Debatte vorstellt und diskutiert (siehe auch "Auf dem Weg zur Wissensdemokratie" teli.de/blog/?p=298 und "Gesellschaftlichen Vertrag für Wissenschaft erneuern" teli.de/blog/?p=275)

In der EU können sich die Bürger zur Forschungspolitik bereits äußern

Die EU-Kommission ist da schon viel weiter. Bereits seit Jahren gibt es das Instrument der öffentlichen Anhörungen. Erst in jüngster Zeit hat die Kommission diese Mitwirkungsmöglichkeit in der Internet-Seite "Ihre Stimme in Europa" zusammen gefasst: Darauf können Bürger und Nichtregierungsorganisationen ihre Meinung zur Forschungspolitik äußern.

Bürger als Frühwarnsystem: Sie waren ersten, die vor Asbest, Radioaktivität, BSE warnten

Hinweise auf viele gefährliche Entwicklungen, die die Experten in den Elfenbeintürmen der Wissenschaft für undenkbar hielten, sind in der Vergangenheit von Bürgern und Nichtregierungsorganisationen gekommen, berichtet Neubert. Sie warnten beispielsweise viel früher als Forscher vor den Gefahren von Asbest, radioaktiver Strahlung und BSE. Das belegt die Studie der Europäischen Umweltagentur "Late lessons from early warnings", die bereits im Jahr 2002 erschien. In ihr werden etliche Beispiele dokumentiert, bei denen die Öffentlichkeit auf mögliche Gefahren hinwies, die von den Wissenschaftlern oft viel zu lange als "anekdotisches Ereignis" hingestellt wurden.


Dr. Janine Drexler, Presse und Öffentlichkeitsarbeit
Fraunhofer-Gesellschaft
© 2024 Funkzentrum In Media e. V.
Cookies erleichtern die Bereitstellung unserer Dienste. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden.